Ludwig Seyfarth: Wie Blätter im Wind. Die Ruinen im Werk von Naho Kawabe

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Die letzte große Naturkatastrophe in Japan war bekanntlich ein Tsunami, dem auch ein Atomkraftwerk nicht standhalten konnte. Im März 2012 fotografierte Naho Kawabe viele beschädigte oder weitgehend zerstörte Einzelhäuser in der vom Tsunami betroffenen Präfektur Miyagi. Wüsste man nicht, wie die Gebäude in diesen Zustand geraten sind, würde man, anders als die klassischen Ruinenbetrachter, sofort danach fragen. Und genauso danach, was mit ihnen geschehen wird: Werden diese Häuser wieder instandgesetzt oder abgerissen und durch neue ersetzt werden? Die Fotos dienten der Vorbereitung eines im September 2012 in Miyagi gedrehten Videofilms, bei dem die Kamera aus dem Auto heraus langsam und gleichmäßig die Reste einer fast vollständig zerstörten kleinen Hafenstadt einfängt. Nur noch einzelne Häuser stehen, die Reste anderer sind schon vollständig weggeräumt worden. Auf den Brachflächen dazwischen, auf denen die Fotografien nur Staub, Sand und herumliegenden Müll zeigten, sind einige Monate später schon zahlreiche sprießende Pflanzen sichtbar. Wasser dringt von unten an die Erdoberfläche durch. Die Natur holt sich das freigewordene Terrain zurück.

Naho Kawabe interessiert sich für die teilweise unscheinbaren Prozesse, langsamen Veränderungen, die in einem sowohl physischen wie auch zeitlichen Kontrast zur massiven Wucht der Katastrophe stehen. Und Kawabe fängt ein, was in wenigen Jahren vielleicht völlig verschwunden sein wird. Auch was die Gebäude betrifft, richtet sie den Blick nicht auf repräsentative und Monumentalbauten, sondern auf schlichte Ein- und Mehrfamilienhäuser. Eine Leere, die völlig neu bebaut werden kann, ist stets eine Faszination für viele Architekten. (…)

Aber eine Neubebauung kann auch so aussehen, dass von der Vergangenheit nichts mehr erkennbar übrig bleibt. 2008, als man den 50. Jahrestag seiner Neuerrichtung feierte, besuchte Naho Kawabe den französischen Badeort Royan, der im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört worden war. Das wie ein Disneyland wirkende Ambiente Royans hatte Jacques Tati zu seinem Film „Mon Oncle“ (1958) inspiriert, einer Satire auf den architektonischen Modernismus und die Absurdität eines vollkommen durchtechnisierten Alltags. Die Wohnhäuser, Villen und Hotels, die Naho Kawabe in ihrer Fotoserie „The Palms of Royan“ ins Bild setzt, machen tatsächlich den Eindruck, als ob sie Teile einer gigantischen Filmkulisse wären. Die Abwesenheit von Menschen lässt zudem die Vermutung aufkommen, dass es sich nicht um Häuser in realer Größe, sondern um verkleinerte Modelle handelt. Darin liegt auch ein Bezug zu den Häusern aus Miyagi, die ebenfalls so fotografiert sind, dass wir allein aus der Betrachtung der Bilder kaum ausmachen können, ob sie echte Zerstörung zeigen oder nur das Modell einer Simulation von Tsunamischäden.

Naho Kawabe zeigt uns die Welt gleichsam in einem anderen Aggregatzustand: nicht in ihrer physischen Festigkeit, sondern im Transitorischen, Flüchtigen, was sich auch in der Vorliebe für Materialien wie zum Beispiel Kohlestaub ausdrückt. Die Ruine ist nicht nur Anlass für die Meditation über die Vergangenheit oder die Vergänglichkeit schlechthin, sondern Ausdruck des Transitorischen, des Überganges von einem Zustand in einen anderen. Sie ist nicht das Bleibende im ewigen Kreislauf des Vergehens, sondern selbst etwas Flüchtiges, das verschwinden wird. So realisiert Naho Kawabe das Motiv des Hauses und der Ruine auch immer wieder in ephemeren Materialien, so etwa auf einer 2006 entstandenen, panoramatischen Kohlezeichnung oder in dem kurzen Video „Sugarhouse“ von 2004. Hier löst sich das Haus innerhalb von vier Minuten auf.

Ist die klassische europäische Ruine eine Silhouette, die sich vor dem Himmel wie ein Mahnmal abhebt, so ist die Ruine, wie sie im Werk von Naho Kawabe erscheint, eine flüchtige Spur, ein kalligrafisches Zeichen, das kurzfristig erscheint und dann wieder verschwindet, fortgetragen wie Blätter im Wind.

in: Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013

Belinda Grace Gardner: Licht- und Schattenspiele. Der Flüchtigkeit Gestalt geben: Naho Kawabes Sichtbarmachung des Unsichtbaren

Wenn Sonnenstrahlen seitlich durch das Muster einer Spitzengardine fallen, verdichten sich die Lücken im Gewebe für einen Moment zu einem anmutigen Schattenbild. Die filigrane Struktur gewinnt darin an visueller Substanz. Stilisierte Blüten zeichnen sich als dunkle Negativumkehrungen auf Flächen, Wänden, dem Boden ab: ein flirrender Reflex des Lichts, der sich zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Konkretisierung und Auflösung manifestiert. Diese Situation hat die japanische, in Hamburg lebende Künstlerin Naho Kawabe zu einer offenen, weiterhin im Entstehen befindliche Serie von fragilen Bodenarbeiten inspiriert. Bei ihren Umdeutungen des flüchtigen Schattenspiels werden die ornamentalen Strukturen von Vorhängen in nicht minder ephemerer Wiedergabe mittels Kohlestaub nachgezeichnet. Durchlässige Draperien aus Second-Hand-Läden, die Naho Kawabe über Jahre hinweg gesammelt hat, fungieren dabei als Schablonen. Durch diese lässt sie den Kohlestaub sachte hindurchrieseln. Wie schwarzer Schnee oder Blütenstaub setzt sich der puderige Werkstoff in den Leerstellen des Materials ab und hinterlässt auf dem Untergrund schnörkelreiche florale Umrisse. Ein Windhauch könnte das Bild sogleich verwischen und verfliegen lassen. Doch hat es für die Laufzeit einer Ausstellung oder im fotografischen Dokument, in dem es darüber hinaus eingefangen wird, Bestand(…).

Grundsätzlich verwendet Naho Kawabe als Vorlagen für die zarten Kohleabdrucke textile Massenware, die „eher hässlich, kitschig und von minderer Qualität“ ist, aber mittels ästhetischer Übersetzung, Verwandlung und Sublimierung – die Künstlerin spricht treffend von einem „Stoff-Wechsel“ –, zu geheimnisvollen (Traum-)Visionen mutiert: ein Effekt, den die spezifische Beleuchtung der Arbeiten durch natürliches oder indirektes Kunst-Licht noch unterstreicht, das die Motive teils wie selbsttätig von innen heraus zum Strahlen bringt. Das immaterielle Phänomen des Lichts, durch das überhaupt erst Sehen und das Erkennen der sichtbaren, objekthaften Wirklichkeit möglich ist, wird in den aus Kohlestaub generierten Schattenbildern gleichsam dingfest gemacht und simultan in seiner Ungreifbarkeit thematisiert(…).

Tatsächlich weisen die ätherischen, schwarzweißen Negativbilder der Kohlearbeiten auch optische Parallelen zum Medium Film, oder genauer: zur Fotografie auf. Naho Kawabes feinstoffliche Adaptionen des beiläufigen Schattenspiels eines Vorhangmusters auf einer Wand sind wie Momentaufnahmen kurzzeitig in Erscheinung tretender „Spuren der Begegnung mit dem Licht“. Roland Barthes hat die Fotografie als ein „durch die Wirkung des Lichts enthülltes, ‚hervorgetretenes’, ‚aufgegangenes’, (wie der Saft einer Zitrone) ‚ausgedrücktes’ Bild“ und als „Emanation des vergangenen Wirklichen“ definiert, das dem Flüchtigen, längst Abwesenden Dauer verleihe. Das Ephemere ist der Fotografie, wie Barthes sie nennt, „ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild“, somit auf essenzielle Weise eingeschrieben. Dieser Idee eines „vom Wirklichen abgeriebenen“ Bildes gibt die Künstlerin in ihren von Licht kündenden Schattenbildern aus Kohlestaub subtile haptische Gestalt. Sie stellt darin aber auch immer implizit die Frage nach der Beständigkeit und Verbindlichkeit dieser Realität. In ihren potenziell flüchtigen Kohleabdrucken, in denen die Lücken in der Textur des ornamentalen Gewebes zur Abbildung kommen, geht es nicht zuletzt um die „Sichtbarmachung des Unsichtbaren“: ein ästhetisches Leitmotiv, das sich durch ihr zwischen Licht und Schatten changierendes Werk hindurch zieht.Belinda Grace Gardner: Licht- und Schattenspiele.Der Flüchtigkeit Gestalt geben: Naho Kawabes Sichtbarmachung des Unsichtbaren

in: Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013, p 15-24.

Blüthenstaub

Port Gallery T, Osaka (JP)

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Photo: Kenichi Amano

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Photo: Kenichi Amano

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Photo: Kenichi Amano

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Photo: Kenichi Amano

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Photo: Kenichi Amano

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Photo: Kenichi Amano

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Why am I here?

Holz, Metall, Bast, Beamer, Spotlight, Video (HD, 8’06, Loop)

Photo: Ken Kato

Anhand einer originalen Fetischfigur des Mbete-Stamms aus Gabun, die auch als Alter Ego Naho Kawabes fungiert, formuliert die Künstlerin in ihrer Rauminstallation Why am I here? ihre Suche nach der Definition des Seins. Ursprünglich entdeckte Kawabe die Figur in dem Raritätenladen Harrys Hamburger Hafenbasar & Museum, wo sie mit anderen Fetischfiguren aus unterschiedlichen Ländern versammelt war – losgelöst von ihrer originären Funktion und Bedeutung. Vermutlich war die Figur zufällig per Schiff nach Hamburg gereist, landete als »Seemannsschatz« in dem Basar auf der Reeperbahn und stand dort, ihres kulturellen Kontextes entkleidet, als kurioses Objekt unter anderen herum. In Kawabes Installation findet sich die Figur nun in einem weiteren, ihr völlig fremden Kontext wieder. Ursprünglich Fetisch, stellt sich anhand der in permanent sich verändernden Raum-Zeit-Konstellation versetzten Figur die Frage nach dem heutzutage noch möglichen Stabilitätsfaktor unserer Selbstverortungen. Why am I here? konfrontiert Betrachter*innen mit Fragen nach kultureller Zugehörigkeit, Grenzüberschreitungen und, generell gesehen, der existenziellen Frage, wie die Koordinaten Raum und Zeit unsere Identitätsvorstellungen mitbestimmen.

Text von Magnus Pölcher
in: Fuzzy Dark Spot. Videokunst aus Hamburg. Deichtorhallen Hamburg / Sammlung Falckenberg

Photo: Hayo Heye

Ausstellungen: Shiseido Gallery, Tokyo (JP) / Ermekeilkaserne, Bonn (DE) / Deichtorhallen Sammlung Falckenberg Hamburg (DE) /Kunsthaus Hamburg (DE)
Abbildungen: Broschüre ” Shiseido Art Egg 05″ / Katalog “Observer Effect” / Katalog “Fuzzy Dark Spot. Videokunst aus Hamburg” / Katalog “INDEX 11”

Song for the forbidden zone

Online-Performance, 5’30

“Am Ende des Videos “Perfect Pitcher #1 – Song for the forbidden zone” habe ich die Schlussszene des Stalkers von Tarkovsky als Standbild kurz auftauchen lassen. Sie zeigt den Blick über den Rücken der Familie hinweg auf eine brachliegende Landschaft und eine monströs bedrohliche industrielle Anlage am Horizont. Ein Atomkraftwerk. Die Melancholie dieses Bilds durchzieht das ganze Video, denn das brennend rote und kaltweiße Lichtgeflacker in Kombination mit dem Sprechgesang von Hazuki Ogoshi, einer Musikerin mit dem ‚absoluten Gehör”, kann auf das katastrophische Ende einer Ära verweisen. Die seltsam nervöse Aufnahmetechnik, die meinen erregten Zustand spiegelt, wurde dadurch erzielt, dass ich eine kleine Web-Kamera in den Mund genommen habe – gleichsam lagen mir Schock und Protest auf der Zunge und mein Körper wurde zum Aufzeichnungsinstrument.”

Interview zwischen Aomi Okabe und Naho Kawabe
in: Katalog “Observer Effect“

Ausstellung: FOLD Gallery, London (GB) / blinkvideo.de
Abbildung: Katalog “Observer Effect”