Wenn Sonnenstrahlen seitlich durch das Muster einer Spitzengardine fallen, verdichten sich die Lücken im Gewebe für einen Moment zu einem anmutigen Schattenbild. Die filigrane Struktur gewinnt darin an visueller Substanz. Stilisierte Blüten zeichnen sich als dunkle Negativumkehrungen auf Flächen, Wänden, dem Boden ab: ein flirrender Reflex des Lichts, der sich zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Konkretisierung und Auflösung manifestiert. Diese Situation hat die japanische, in Hamburg lebende Künstlerin Naho Kawabe zu einer offenen, weiterhin im Entstehen befindliche Serie von fragilen Bodenarbeiten inspiriert. Bei ihren Umdeutungen des flüchtigen Schattenspiels werden die ornamentalen Strukturen von Vorhängen in nicht minder ephemerer Wiedergabe mittels Kohlestaub nachgezeichnet. Durchlässige Draperien aus Second-Hand-Läden, die Naho Kawabe über Jahre hinweg gesammelt hat, fungieren dabei als Schablonen. Durch diese lässt sie den Kohlestaub sachte hindurchrieseln. Wie schwarzer Schnee oder Blütenstaub setzt sich der puderige Werkstoff in den Leerstellen des Materials ab und hinterlässt auf dem Untergrund schnörkelreiche florale Umrisse. Ein Windhauch könnte das Bild sogleich verwischen und verfliegen lassen. Doch hat es für die Laufzeit einer Ausstellung oder im fotografischen Dokument, in dem es darüber hinaus eingefangen wird, Bestand(…).
Grundsätzlich verwendet Naho Kawabe als Vorlagen für die zarten Kohleabdrucke textile Massenware, die „eher hässlich, kitschig und von minderer Qualität“ ist, aber mittels ästhetischer Übersetzung, Verwandlung und Sublimierung – die Künstlerin spricht treffend von einem „Stoff-Wechsel“ –, zu geheimnisvollen (Traum-)Visionen mutiert: ein Effekt, den die spezifische Beleuchtung der Arbeiten durch natürliches oder indirektes Kunst-Licht noch unterstreicht, das die Motive teils wie selbsttätig von innen heraus zum Strahlen bringt. Das immaterielle Phänomen des Lichts, durch das überhaupt erst Sehen und das Erkennen der sichtbaren, objekthaften Wirklichkeit möglich ist, wird in den aus Kohlestaub generierten Schattenbildern gleichsam dingfest gemacht und simultan in seiner Ungreifbarkeit thematisiert(…).
Tatsächlich weisen die ätherischen, schwarzweißen Negativbilder der Kohlearbeiten auch optische Parallelen zum Medium Film, oder genauer: zur Fotografie auf. Naho Kawabes feinstoffliche Adaptionen des beiläufigen Schattenspiels eines Vorhangmusters auf einer Wand sind wie Momentaufnahmen kurzzeitig in Erscheinung tretender „Spuren der Begegnung mit dem Licht“. Roland Barthes hat die Fotografie als ein „durch die Wirkung des Lichts enthülltes, ‚hervorgetretenes’, ‚aufgegangenes’, (wie der Saft einer Zitrone) ‚ausgedrücktes’ Bild“ und als „Emanation des vergangenen Wirklichen“ definiert, das dem Flüchtigen, längst Abwesenden Dauer verleihe. Das Ephemere ist der Fotografie, wie Barthes sie nennt, „ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild“, somit auf essenzielle Weise eingeschrieben. Dieser Idee eines „vom Wirklichen abgeriebenen“ Bildes gibt die Künstlerin in ihren von Licht kündenden Schattenbildern aus Kohlestaub subtile haptische Gestalt. Sie stellt darin aber auch immer implizit die Frage nach der Beständigkeit und Verbindlichkeit dieser Realität. In ihren potenziell flüchtigen Kohleabdrucken, in denen die Lücken in der Textur des ornamentalen Gewebes zur Abbildung kommen, geht es nicht zuletzt um die „Sichtbarmachung des Unsichtbaren“: ein ästhetisches Leitmotiv, das sich durch ihr zwischen Licht und Schatten changierendes Werk hindurch zieht.Belinda Grace Gardner: Licht- und Schattenspiele.Der Flüchtigkeit Gestalt geben: Naho Kawabes Sichtbarmachung des Unsichtbaren
in: Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013, p 15-24.