In der zeitgenössischen Kunstszene wird erwartet, dass die Künstler*innen den ästhetischen und sozialen Kontext ihrer Werke offenlegen. Mich interessiert grundsätzlich und angesichts meiner eigenen Situation, mit welcher Strategie es Künstler*innen gelingt, sich diesbezüglich in einer fremden Sprache verständlich zu machen. Ändert sprachliche Neuformulierung etwa die Werke und die Persönlichkeit? In einer durch Globalisierung zusammenwachsenden Welt wird die Gesellschaft immer aufmerksamer gegenüber kulturellen Unterschieden. Künstler*innen, die zeitlich lange und weit entfernt von ihrem eigenen Kulturkreis leben, verlieren die Zugehörigkeit zu ihrer Kultur und entwickeln – bildhaft ausgedrückt – eine verschachtelte kulturelle Identität. Welche Auswirkungen hat dieser Zustand auf das Verhalten der Künstler*innen und ihre künstlerischen Formulierungen? Aufgrund dieser Fragestellungen habe ich den Titel des Projekts „Aufenthaltswahrscheinlichkeiten“ gewählt und zugleich den für mich überraschenden Tatbestand in das Ausstellungsprojekt einbezogen, dass es in meiner Heimat Japan kaum Künstler*innen gibt, die fremder Herkunft sind.
Zunächst habe ich auf Basis meiner eigenen Erfahrungen in Hamburg einen Katalog von 25 Fragen entwickelt, die ich in der Hansestadt lebenden Künstler*innen aus anderen Ländern stellen und als Interview auf Band dokumentieren wollte. Um ihre Stimmen schallgeschützt aufnehmen zu können, baute ich eine kleine mobile und schnell aufzubauende Kiste und habe damit die Künstler*innen in ihren Ateliers besucht.
Als ich in der Werkstatt von Joe Sam-Essandoh war, bemerkte er meine Tragetasche aus Plastik, mit der ich die Aufnahmekiste transportierte, und fing an zu lachen: „Weißt du, wie diese Art von Tragetasche genannt wird?“ Diese Taschen findet man oft stapelweise, verschieden groß und mit einem typischen Karo-Muster versehen, in den vielen kleinen Haushalts- und Souvenir-Läden Hamburgs, die meist von südländischen Händlern betrieben werden. Meine Tasche habe ich geerbt von Claus Böhmler, der als ehemaliger Professor an der Hamburger Hochschule für bildende Künste und Fluxus-Künstler ein besonderes Interesse an ungewöhnlichen Alltagsgegenständen entwickelt hatte und sie sammelte. Er wird die Bedeutung der Tasche gekannt haben – für mich war sie zunächst nur vorzüglich geeignet zum Transport für große Teile. Doch bis zum Treffen mit Joe wusste ich nicht, dass sie eine besondere Bezeichnung hat: Die Tasche wird „Ghana must go“ genannt, seit 1983 der damalige nigerianische Präsident Shehu Shagari über zwei Millionen Emigrant*innen ohne Papiere aus seinem Land vertrieben hatte. Mehr als die Hälfte der Ausgewiesenen stammte ursprünglich aus Ghana und flüchtete nun durch Benin und Togo zurück in die Heimat. Sie trugen ihre Habe in den leichten und stabilen Tragetaschen, die seitdem weltweit „Ghana must go“ heißen und es sogar zum Verkaufsschlager geschafft haben. Als ich im Sommer 2019 während der Arbeit am Projekt mit der gemusterten Tasche in den öffentlichen Verkehrsmitteln Hamburgs von Atelier zu Atelier fuhr, muss es für die Mitfahrenden ein seltsamer Anblick gewesen sein, besonders für die Kenner der Geschichte von „Ghana must go“: Eine große Tasche unterwegs mit einer schmalen Asiatin.
Die Tasche ist in diesem Fall ein einfacher Gebrauchsgegenstand, auf den verschiedene Geschichten gleichzeitig projiziert sind. Indem ich als Benutzerin der Tasche erfuhr, dass sie für andere eine weitreichende Bedeutung als Transporthilfe besitzt, konnte ich meine eigene Situation als Japanerin in Hamburg aus einem neuen Blickwinkel sehen. Diese alltäglichen Austauschprozesse zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft vertiefen, verändern und öffnen das Interesse für Schicksale mir zunächst fremder Personen, die im gleichen Raum mit mir leben – verschiedene Welten, Perspektiven und Positionen vermischen und überlagern sich, bilden ständig neue Konstellationen. In der Quantentheorie wird angenommen, dass kleinste bewegliche, sich nicht behindernde Teilchen die Welt zusammensetzen. Man kann sie beobachten, ihre Existenz feststellen, aber nicht fixieren, weil sie flüchtig sind. Für diese Qualität wird in der Physik der Begriff „Aufenthaltswahrscheinlichkeiten“ eingesetzt. Er beschreibt ein Hier und Da, Anwesenheit und Abwesenheit im gleichen Moment, Ruhe und Unruhe. Jeder mit befristetem Aufenthaltstitel wird unruhig, bevor er zur „Ausländerbehörde“ geht, um eine weitere Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Dabei stellt sich die Frage: „Wie wahrscheinlich ist die Zusage, eine Aufenthaltsverlängerung zu bekommen?“ Wenn die physikalische Welt auf Wahrscheinlichkeiten beruht, dann kann auch über mein Schicksal nur Wahrscheinliches ausgesagt werden. Um es im Bild zu formulieren: Kann ich bleiben oder muss ich die Tasche packen?
Die am Projekt teilnehmenden Künstler*innen sind aus verschiedenen Herkunftsländern und haben sehr unterschiedliche künstlerische Positionen entwickelt. Die in Osaka gezeigten Werke sind gemeinsam mit den Künstler*innen ausgewählt worden. In der Ausstellung zeige ich ein Video, dem ein Teil der in Hamburg aufgenommenen Interviews als Soundcollage in deutscher Sprache unterlegt ist. Gleichzeitig sind die Aussagen der Interviewten im Video in japanischer Schrift zu lesen. Im Gespräch auf Deutsch zwischen den Künstler*innen und mir begegneten sich zwei, jeweils von einer anderen Sprachkultur geprägten Partner. Die dadurch entstandene Vagheit des Verständnisses kehrte sich um in wachsende Annäherung und produktiven Austausch. Sollte das Ausstellungskonzept – Kunstwerke, Video, Gesprochenes und Geschriebenes zu kombinieren – zum Verständnis zwischen den Kulturen und den Partnerstädten beitragen, würde ich mich freuen.