Naho Kawabe ist 1976 in der südwest-japanischen Hafenstadt Fukuoka geboren und dort aufgewachsen. Die 1,5 Millionen Einwohner zählende Großstadt liegt auf der südlichsten Hauptinsel Japans an einer Meeresdurchfahrt direkt gegenüber von Südkorea. Berühmt geworden ist dieses Grenzgebiet durch mehrere historische Seeschlachten, insbesondere durch den Sieg einer kleinen japanischen Flotte gegen die zahlenmäßig überlegenen russischen Seestreitkräfte in der sogenannten Koreastraße bei Tsushima 1905. Der außereuropäischen Welt gilt dieses Ereignis bis heute als Impulsgeber eines neuen Selbstbewusstseins, mit dem sich die Länder Asiens und Afrikas im Lauf des 20. Jahrhunderts aus den kolonialen Fesseln der westlichen Mächte befreiten (vgl. Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires, 2013). Fukuoka geriet 1945 im zweiten Weltkrieg wieder ins Rampenlicht der Geschichte als Angriffsziel der US-Amerikaner, deren Plan, im August des Jahres ihre zweite Atombombe auf diese Stadt zu werfen, nur schlechtes Wetter verhinderte. Heute ist Fukuoka beliebtes Einkaufsziel der mit Fähren und Flugzeugen über das Meer kommenden koreanischen und chinesischen Touristenströme.Von 1996 bis 1999 wohnte Kawabe in Tokio und studierte dort an der Musashino Art University freie Kunst und Medienwissenschaften. Mit ihrem Wechsel nach Deutschland 2001, zunächst nach Bremen, dann nach Hamburg, nahm sie hier, ausgestattet durch ein DAAD-Stipendium, an der Hochschule für bildende Künste ein Studium bei dem Fluxus-Künstler und Professor Claus Böhmler auf und schloss es 2006 erfolgreich ab. Sie arbeitet seitdem als freie Künstlerin in Hamburg mit steigenden Ausstellungsaktivitäten in Deutschland und in Japan.
Die Erfahrungen des Pendelns zwischen asiatischer und europäischer Kultur sind ein übergreifender Aspekt der künstlerischen Arbeit von Naho Kawabe. Die hier in sieben Räumen von ihr präsentierten Werke sind exemplarisch für ein ästhetisches Programm, das sich zum einen bezieht auf die in Schwarz-Weiß gefasste abstrakte Ästhetik japanischer Kultur, zum anderen auf die erzählende Tradition der europäischen Kunst und ihren neueren Formen zwischen Installation, Fotografie und Video. In diesem Feld nutzt Kawabe die Qualitäten bestimmter selbst gewählter Materialien wie etwa Kohle und deren antithetischem Pendant: Licht.
Das Material Kohle, in der verwendeten symbolischen Form von Holzkohle, ist seit Jahren Markenzeichen der Bodenobjekte von Kawabe zwischen minimalistischer Strenge und Figuration. Dabei ist die Kohle selbst schon Bedeutungsträger mit besonderen ästhetischen Eigenschaften und gesellschaftlichen Implikationen. Kohle ist ein Rohstoff, der eine lange Geschichte hat – von der traditionellen künstlerischer Verwendung als Zeichenstift bis zum Einsatz für Objekte der Arte-Povera-Künstler, etwa Jannis Kounellis (vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst, 2001, S. 244ff). Historisch ist Kohle die wesentliche Energie, auf welcher einerseits der industriebürgerliche Reichtum basiert und mit der andererseits soziale und ökologische Tragödien ausgelöst worden sind. Deren Spanne reicht von den Ereignissen in den Grubenrevieren Colorados, 1913/17 festgehalten von Upton Sinclair in seinem berühmten Romandrama “König Kohle”, in dem der menschenunwürdige Abbau der fossilen Natur zum Symbol für Ausbeutung und Rassismus wird, bis zum Kohle-Kolonialismus unserer Zeit oder den aktuellen Auseinandersetzungen um den CO2-Ausstoß auf diversen Klimakonferenzen. Als Naho Kawabe geboren wird und in Fukuoka zur Schule geht, am Ende der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, gerät in Japan und Europa die Kohle-Industrie in die Krise. Die japanische Regierung setzt seitdem ausschließlich auf Atomenergie, mit allen Folgen bis hin zur Katastrophe in Fukushima 2011, die Kawabe unmittelbar miterlebt hat, da sie sich damals in Tokio aufhielt. Später besuchte sie zweimal das Katastrophengebiet, drehte Videos und machte Fotos.
Über die Verwendung von Kohle hinaus bildet seitdem das Thema Energie einen Schwerpunkt in der künstlerischen Arbeit von Kawabe. Ihre Kohle-Installationen sind temporär, denn die aus schwarzem Staub bestehenden Bodenarbeiten werden nach Ende der Ausstellungszeit zusammenfegt und verschwinden, existieren nur noch auf fotografischen Dokumentationen. Das von der Künstlerin mühsam mittels einer Kaffeemühle hergestellte Kohlepulver wird durch die Maschen von Spitzengardinen gestreut und nicht fixiert. Die Figuren, Ornamente, Zeichen und Linien, die sich auf dem Boden bilden, sind das Negativ der wie eine Schablone verwendeten Gardinen.
Kohle ist ein “Urstoff”, welcher Tausende von Jahren unter der Erde lag und entstanden ist durch Pressung von Bäumen und Pflanzen, deren Lebensquelle Licht war. Kohle ist lichtlos, ist ein stumpf und tot wirkendes Zeugnis ehemals üppiger Vegetation. Die von Kawabe auf den Grund gestreuten Formen bilden häufig wiederum Pflanzen ab, so, als ob die Künstlerin der Kohle ihr ursprüngliches Aussehen für einen Moment lang zurückgeben will. Die Kohle-Installationen sind zudem ortsspezifisch und nehmen jeweils Bezug auf Bau- und Beleuchtungsbedingungen des Ausstellungsraums. Bei der Wahl des Materials Kohle spielt übrigens ein biografischer Hintergrund eine Rolle, erwähnt sei, dass der Großvater von Kawabe als Ingenieur im Bergbau tätig war.
Mit den anderen hier gezeigten Kohle-Arbeiten, bei denen der schwarze Staub auf Glas fixiert ist und in schräg gehängten, einzelnen Rahmen eine durchgehend horizontale Linie bildet, nimmt die Künstlerin ebenfalls Bezug auf eigene Geschichte und darüber hinaus: Die Erfahrung des Reisens zwischen den Kulturen rückt den Horizont als Metapher von Grenzen und deren Überschreitungen in den Fokus der Arbeit von Kawabe als Schnittstelle, als Beschränkung und Möglichkeit. Hinter dem Horizont geht’s weiter – hinter ihm lauert die Bedrohung. Die Linie zwischen Land oder Wasser und Himmel symbolisiert das Gefährliche ebenso wie sie Sehnsüchte weckt (vgl. Waltraud Brodersen, in: Kat. Ausst. Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013). Damit stellt sich die erste bildhafte Verbindung zum Ausstellungstitel “delikatelinien” ein, denn das Delikate ist nicht nur etwas Appetitliches, Feines, sondern auch etwas Zerbrechliches, Heikles, möglicherweise Scheiterndes – in der Diplomatie existiert der Ausdruck “unterwegs sein in einer delikaten Mission”.
Das Erleben verschiedener Kulturen hat zudem das Interesse Kawabes am Thema beschränkender Grenze und überwindender Bewegung geschärft – und zwar auf mehreren Ebenen: Aus dem wiederum “armen Material” Farbkarton schneidet die Künstlerin Flugrouten diverser Wandervogelarten aus und hängt die farbig unterschiedlichen Umrisse übereinander auf eine Nadel, so dass ein komplexes Geflecht von bunten Linien entsteht, die keine Richtung oder Priorität evozieren. Eine weitere ähnlich angelegte Arbeit zeichnet in farbigen Scherenschnitten die Konturen aller Ländergrenzen auf dem afrikanischen Kontinent nach. Während die Vogelflugrouten mit ihren spielerisch rundfließenden Linien Grenzenlosigkeit des Fliegens und beliebigen Fußfassens als Utopie assoziieren lassen, erscheinen die Silhouetten der afrikanischen Staaten häufig scharfkantig – entsprechend ihrer historisch oft willkürlich auf dem Reißbrett gezogenen Grenzverläufe. Bei der bewusst provisorischen Präsentation auf einer leicht in die Wand gesteckten Nadel bleiben die Flug- und Grenzlinien aus Karton austauschbar und wirken jeweils äußerst fragil.
Schon im Jahr 2011 war Afrika Gegenstand einer künstlerisch-philosophischen Reflexion Kawabes: Anhand einer originalen Fetischfigur des Mbete-Stammes aus Gabun, die wohl wie ein Alter Ego der Künstlerin zu verstehen ist, formuliert sie in einem Interview ihre Suche nach der Definition des Seins auf dieser Welt: “Die Figur in der Rauminstallation – “Why am I here” – habe ich extra gesucht (…) und gefunden in “Harry’s Hamburger Hafenbazar”. Die Situation dort ist ganz seltsam: Fetisch-Figuren aus verschiedenen mikrokosmischen Kulturräumen mit spezifischen auf den jeweiligen Ort bezogenen Funktionen, stehen beziehungslos zusammen (…). Die Stadt und der Bazar waren nicht ihr ursprünglicher Bestimmungsort. Was machen sie da? Wo kommen sie her? Wo geht’s hin? (…) Die Figur kommt irgendwann aus Afrika, reist per Schiff nach Hamburg und steht nun verloren, quasi ziellos, auf der Reeperbahn. (…). Auch dort steht sie nun in einer zunächst nicht erklärbaren Weise in einem anderen Kulturraum herum, wird zum unkategorisierten Objekt. Das Reisen und das Überschreiten von Grenzen, wird auf einer ersten Ebene thematisiert (…). Wo sind wir letztlich in Raum und Zeit – oder: transportiert das Thema der Ortlosigkeit nicht über alle Gegenwart hinweg die Frage nach Existenz?” (Elena Winkel: Interview mit Naho Kawabe, in: Kat. Ausst. Index 11, Hamburg 2011, S. 48f)
Eine Kombination aus den Themen Horizont und Grenze zeigt eine gerade frisch aus der Siebdruckpresse gekommene Grafik, auf der eine bunte Wolke – wiederum geformt aus einigen Länderumrissen Afrikas -, über einem Foto Kawabes von der westlichsten Spitze Europas schwebt. Vom “Cabo da Roca” aus, in der Nähe Lissabons gelegen, reicht der Blick noch heute auf die Unendlichkeit des Atlantiks Richtung Amerika und Afrika, dorthin also, woher sich die Weltmacht Portugal ehemals ihren Reichtum saugte. Die zunächst fröhlich anmutende Farbwolke auf dem Siebdruck taucht über dem Horizont jedoch auf wie ein Menetekel. Laut biblischer Überlieferung wurden dem babylonischen König Belsazar während eines prächtigen Festes geheimnisvolle Worte an die Wand projiziert, die sein Lebensende und den Zusammenbruch seines Reiches ankündigen. Rembrandt hat 1635 aus dieser Geschichte ein berühmtes Gemälde geschaffen: Auf dem Werk “Das Gastmahl des Belsazar” (National Gallery, London) erscheint dem verblüfften Herrscher die böse, in einem Lichtkegel strahlende Botschaft. Das Bild des Menetekels nimmt Kawabe auf und wendet es zugleich: Ihre Lichtinstallation im ehemals Geheimnisse versteckenden und schützenden “Kryptoraum” der Ermekeilkaserne (die ja nach 1948 zum ersten Standort des bundesrepublikanischen Verteidigungsministeriums wurde) wirft mit den Schatten der an Fäden hängenden und angeleuchteten Kugeln den – hier als ironische Bezugnahme sehr passenden – Satz “einer muss wach sein” an die Wand, der sich auf eine Parabel von Franz Kafka bezieht. Der jüdische Schriftsteller hatte mit “Nachts” zehn Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieg 1924 in prägnanter Kürze – acht Sätze – die gesellschaftliche Situation der Weimarer Republik schlaglichtartig charakterisiert: Während die Menschen sich am Abend in ihrer Wohnung oder im Freien zur Ruhe legen und sich in Sicherheit wähnen, muss einer wach bleiben, um den Frieden zu schützen. Die letzten fünf Sätze des Textes von Kafka lauten: “Und Du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein.” (Kafka, Das Werk, Romane und Erzählungen, Frankfurt a.M. 2004, S. 906)
In einer weiteren Arbeit, “Wandermüde”, die vor kurzem im Marstall in Ahrensburg gezeigt wurde, hat sich Kawabe mit der Odyssee des Denkmals für den jüdisch-deutschen Schriftsteller Heinrich Heine beschäftigt, das, meist per Schiff, von Rom aus nach Korfu, nach Hamburg, nach Marseille und zuletzt nach Toulon geschleppt wurde. Ausgangspunkt der Beschäftigung Naho Kawabes mit deutscher Literatur und dem Schicksal ihrer Autoren waren Seminare an der Universität in Japan sowie eine Erzählung über Walter Benjamin und seine verschollene schwarze Aktentasche. Das hier gezeigte Video “Der Weg I” aus dem Jahr 2008 beschäftigt sich mit dem sogenannten “Chemin Benjamin” (vgl. Waltraud Brodersen, in: Kat. Ausst. Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013). Der Medientheoretiker und Philosoph flüchtete vor den Nationalsozialisten 1940 von Banyuls nach Port Bou und nahm dabei einen Schmugglerpfad über die Pyrenäen, der, noch heute, die Grenzlinie zwischen Frankreich und Spanien markiert. Benjamin und viele andere Flüchtende wurden von Hans und Lisa Fittko über diesen alten Weg durch die Weinfelder der östlichen Pyrenäenausläufer an der Mittelmeerküste geschleust, um quer durch Francos Spanien weiter nach Lissabon zu gelangen. Dort bestiegen die Exilanten Schiffe und retteten sich nach Casablanca, Shanghai, Havanna oder New York. Walter Benjamin jedoch beging Suizid als er in Port Bou ankam und erfahren musste, dass sein Transitvisum nicht anerkannt wurde. Das halbstündige Video zeigt den beschwerlichen Aufstieg in die Berge sowohl aus der Perspektive des Gehenden, der ständig nach unten blickt auf die steinigen Hindernisse, als auch aus der Tragehöhe der schwarzen Aktentasche, die Benjamin mit sich trug und wohl ein letztes umfangreiches Manusskript beherbergte. Kawabe hat die Kamera derart in der nach Gleichgewicht suchenden Hand gehalten, wie Benjamin sein gewichtiges Gepäck. Zugleich sind den unruhigen Aufnahmen Texte von Lisa Fittko und Benjamin unterlegt, die sich mit der Straße und dem Spazierengehen auseinandersetzen.
Zusammenfassend sei zum Schluss ein Absatz aus dem Buch “Ein Zeitalter wird besichtigt” von Heinrich Mann zitiert, der im Alter von sechzig Jahren ebenso den Weg über die Pyrenäen nehmen musste wie Walter Benjamin. Die ‚Erinnerungen’ von Mann an das frühe 20. Jahrhundert lassen Kawabes Vogelfluglinien, die weltweit grenzenlose Verteilung der Vogelpopulationen Europas und die Metapher des Horizonts als bildhafte, oft mit Humor und ironischer Distanz vorgetragene Visionen menschlichen Zusammenlebens erscheinen, von denen wir heute weit entfernt sind. Die Mahnung des Schriftstellers aus dem Jahr 1944 kann aktueller nicht sein: “Das kriminelle Zeitalter hat lange sich selbst nicht geahnt. Es war wohlerzogen, es betrachtete die Schonung jedes einzelnen, nicht seine Überspannung und Gefährdung, als das Richtige. Normal fand es das Vertrauen in Menschen, anstatt sie für verdächtig anzusehen. Es klingt sonderbar und unglaubwürdig, aber durch Europa reiste man ohne Pass. Man benötigte keines Ausweises, um Geld zu erheben. Wer in mehreren Ländern zu Haus war und ohne ständige Wohnung war, bemerkte nie eine Behörde, besonders keine, die ihren Zoll verlangte” (Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Frankfurt a.M. 1988, S. 190).
Überflüssig zu sagen, dass die Idee von “moving locations”, zu diesem Zeitpunkt eine Schau mit Naho Kawabes Arbeiten in den Räumen der Bonner, zur Auffangstation von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afrika umgerüsteten Kaserne zu platzieren, eine zündende war. Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und Besucherinnen.